Empfehlungssystem unterstützt Mediziner*innen bei Diagnose und Therapie
Im Behandlungsraum widmen sich Ärzt*innen ganz ihren Patient*innen. Dennoch geht hier (noch) viel Zeit damit verloren, Daten und Dokumente herauszusuchen, anzuzeigen und zueinander in Beziehung zu setzen. Das können Befundbriefe oder 3D-aufbereitete Bilddateien des individuellen Erkrankungsfalls sein. Oder der*die Mediziner*in vergewissert sich über die aktuellen Empfehlungen von Fachverbänden und Wissenschaft. Eine intelligente Digitalzentrale am Praxis-PC soll künftig das Informationshandling erleichtern und spezifisch für den einzelnen Behandlungsfall zusätzliches Wissen erschließen.
»Wir wollen medizinischem Personal den Zugang zu den Informationen ihrer Behandlungsfälle und zu den aktuellen Wissensbeständen ihrer Disziplin erheblich vereinfachen.« Henrik Mucha und sein Team entwickeln am Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung dafür gerade ein Dashboard, das Ärzt*innen unmittelbar bei ihrer Arbeit unterstützt – direkt über den Praxis-PC im Behandlungsraum. Es zeigt, abgestimmt auf die aktuelle Behandlungssituation, nicht nur die Daten der Behandlungsakte des*der zu Behandelnden an, sondern stellt unter anderem auch Empfehlungen aus den medizinischen Leitlinien sowie patient*innenspezifische Informationen und Analysen aus der aktuellen medizinischen Forschung bereit.
Ganzheitliche Sicht auf das individuelle Krankheitsbild
Das Dashboard zur Unterstützung von Ärzten oder Ärztinnen ist Teil eines neuartigen, digitalen Entscheidungsunterstützungssystems, das Forscher*innen derzeit als Prototyp entwickeln und erproben. Sieben Fraunhofer-Institute haben sich dafür in dem Fraunhofer-Leitprojekt »MED2ICIN« zusammengeschlossen. Dabei müssen die Teams allerdings eine Vielzahl an technischen und organisatorischen Hürden nehmen. Sie müssen beispielsweise die Frage beantworten, wie alle gesundheitsrelevanten Daten zu der Person digitalisiert und so vereinheitlicht werden können, dass sie von Maschinen gelesen, analysiert und bewertet werden können. Die Fraunhofer-Forscher*innen nutzen dafür ein ganzheitliches digitales Patientenmodell. »Diese digitale Repräsentanz ist nach dem Grundprinzip des ›digitalen Zwillings‹ aufgebaut, wie es in der Industrie für Maschinen oder ganze Fabriken bereits erfolgreich eingesetzt wird«, erläutert Mucha. Das »digitale Patientenmodell« führt dabei alle vorhandenen Gesundheitsdaten einer Person, von den ärztlichen Eintragungen in der Patient*innenakte über Diagnosebilder und Laborbefunden bis zur zeitlichen Entwicklung von Krankheitsverläufen, zu einem digitalen Abbild zusammen.
Diese maschinenlesbare Gesamtsicht auf den Gesundheitszustand ist das Kernelement von MED2ICIN. Ärzt*innen können dadurch direkt über das Dashboard sämtliche Inhalte der Patient*innenakte aufrufen und bearbeiten, statt wie bisher zum Beispiel zur Analyse von Bilddaten eines MRT ein separates Programm zu starten und für die Auswertung von EEG-Kurven wieder ein anderes. Das ganzheitliche Patientenmodell ermöglicht darüber hinaus die verschiedenen Typen an Informationen miteinander in Beziehung zu setzen und aus der so entstehenden Gesamtsicht zu analysieren. Diese Aufgabe übernehmen bei MED2ICIN zusätzliche Funktionsmodule, die teils von den Forschungsteams bereits in den Prototyp des Systems integriert werden beziehungsweise sich künftig jederzeit durch neue, zusätzliche Module erweitern lassen.
Das MED2ICIN Dashboard bereitet alle Informationen der Patient*innenakte übersichtlich auf und stellt den Mediziner*innen zusätzlich für die jeweilige Behandlungssituation relevantes Medizinwissen zur Verfügung. Bild: Fraunhofer IOSB
Medizinisches Wissen individuell erschließen
Die Module sind grundlegend, um medizinisches Wissen patientenindividuell durchsuchen und aufbereiten zu können. Eines ist beispielsweise ein auf die Auswertung und Aufbereitung medizinischer Leitlinien spezialisiertes KI-System. Dessen Wissensbasis sind unter anderem die über 1.000 Leitlinien umfassende Datenbank der »Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften AWMF«. Für die tägliche Arbeit der Mediziner*innen sind sie eine wichtige Quelle über aktuelle Empfehlungen des jeweiligen Fachverbands zu Vorgehensweisen und Methoden bei Diagnose und Therapie. Angesichts der Fülle an Leitlinien-Dokumenten ist ihr fachlicher Rat allerdings bisher nur bedingt zugänglich. Um in einer konkreten Behandlungssituation die dafür relevanten Empfehlungen berücksichtigen zu können, müssten die Mediziner*innen zwar nicht alle, aber zumindest die Leitlinien durchsuchen, die ihren Fachbereich betreffen. Gastroentrerolog*innen beispielsweise würden bei einer Datenbankabfrage »ihrer« Leitlinien aber immer noch 120 Treffer mit weiterführenden Links zu weiteren, umfangreichen Dokumenten erhalten, die sich mit Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts befassen.
»Daraus die für den aktuellen Status eines einzelnen Falls relevanten Informationen herauszupicken, ist fast schon wie die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen«, betont Mucha. Das in MED2ICIN integrierte KI-Modul könne jedoch genau dies leisten: Seine Algorithmen finden in der Datenbank gezielt die Informationen, die für den individuellen Gesundheitsstatus des*der jeweiligen Patient*in hilfreich sein können. Und sie leiten daraus weiterführende Vorschläge und Empfehlungen für geeignete Diagnose- oder Therapiemaßnahmen ab.
Ein weiteres Modul bietet Behandelnden die Möglichkeit, gezielt und mit KI-Unterstützung nach ähnlichen Erkrankungsfällen und den dabei gemachten Therapieerfahrungen zu suchen.
Schnittstelle von und für Mediziner*innen
Schnittstelle für diese und weitere Funktionen des MED2ICIN ist das Dashboard, das die Mediziner*innen nicht nur während einer Behandlung, sondern beispielsweise auch als digitale Unterstützung während einer Teamkonferenz nutzen können. »Für die im Wortsinn ›praxisnahe‹ Entwicklung der einzelnen Module von MED2ICIN haben wir dem medizinischen Personel in Kliniken über die Schulter gesehen und in Workshops gemeinsam mit Ärzt*innen die einzelnen Elemente und Funktionen unseres Dashboards entwickelt und erprobt«, erklärt Mucha. Die intensive Einbindung der Anwender*innen sei Grundlage dafür, dass das System den Workflow einer Behandlung adaptieren und situationsangepasst unterstützen kann. Ruft der*die Ärzt*in das digitale Modell eines Behandlungsfalls auf, erhält er*sie zunächst die Übersicht über die wichtigsten Daten zur Person, deren Krankheitshistorie und den aktuellen Behandlungsstatus.
Parallel dazu weist das System auf auffällige Sachverhalte hin: zum Beispiel auf Werte des aktuellen Laborbefunds, die für die Bewertung der Krankheitsentwicklung wichtig sind. Oder das System generiert einen Fragekatalog, der Ärtz*innen hilft, die für den konkreten Einzelfall diagnoserelevanten Fakten während des Anamnesegespräch zu klären. Auch bei der Einschätzung der Qualität der systemerstellen Analysen und Empfehlungen unterstützt das Dashboard die Mediziner*innen, etwa durch hinterlegte Erklärungen, die das Zustandekommen der Ergebnisse nachvollziehbar machen. Speziell im Bereich KI-Einsatz erforschen die Projektpartner dabei wissenschaftliches Neuland. »Derzeit erproben die Teams beispielsweise Lösungen, wie die Rechenwege, Ergebnisse und Vorschläge des Systems so präsentiert werden können, dass sie für die menschlichen Expert*innen nachvollziehbar und damit verständlich wird«. Denn letztlich gehe es »nur« darum, die Behandlung umfassend zu unterstützen, so Mucha. Diagnose und Therapie aber müssen immer in der Hand der Mediziner*innen bleiben.
Digitale Unterstützung für akut bis chronisch
Im Rahmen des Projekts setzen die Forscher*innen MED2ICIN zunächst als Prototyp für zwei medizinische Anwendungsbereiche um: Erstens als Unterstützungssystem für die Gastroenterologie im Bereich chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED). »Ein besonderer Fokus liegt dabei auf das Verstehen und Bewerten von Krankheits- und Therapieverläufen über Zeitspannen bis zu mehreren Jahrzehnten hinweg«, so Mucha. Der zweite Einsatzbereich betrifft den Fachbereich der Onkologie. Insbesondere bei akuten Tumorerkrankungen seien ganzheitliche Analysen von Bildaufnahmen und Vitalwerten bis zur Gensequenzierung erforderlich, um die Diagnose- und Therapieentscheidungen der Mediziner*innen bestmöglich unterstützen zu können.