Merlin Bench

Unsere Projektgruppe verfolgte die Idee einer in die Laborbank integrierten Bedienschnittstelle, auch als hybrider Arbeitsplatz bezeichnet, über mehrere Jahre im Rahmen kleinerer und größerer Projekte. Wir fassen die einer entsprechenden Kombination aus Hardware und Software unter dem Titel „Merlin Bench“ zusammen und stellen in diesem Artikel dessen Entwicklungsgeschichte dar.

Stand: Juli 2019

Frühe Versionen (2003)

Frühe Version des hybriden Arbeitsplatzes.

Die Digitalisierung des Arbeitsplatzes beschäftigte unsere Abteilung schon in den frühen Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts, lange bevor „Digitalisierung“ zum Trendthema wurde.

Das Ergebnis dieser frühen Ideen waren u.a. ein Patent für einen computerunterstützten Arbeitsplatz sowie ein erster Labor-Demonstrator, der am Beispiel der Cocktail-Zubereitung zeigte, wie das Zusammenspiel zwischen Laborbank, elektronischem Laborbuch (hier nur Rezeptebuch) und der Integration von Laborgeräten funktionieren kann. Hervorzuheben ist, dass das Interaktionssystem eine Eigenentwicklung war, die aus einem Projektor und geeigneten Kameras bestand, die im Tisch integriert wurden.

Originalansatz des hybriden Arbeitsplatzes
am Beispiel der Cocktailzubereitung demonstriert.

Merlin Bench V1 (2009, Tischlein-Deck-Dich!)

Dieser Demonstrator wurde im Rahmen eines Vorlaufprojektes für die 50-Jahr-Feier des Fraunhofer IPA entwickelt. Im Tisch wurde ein handelsüblicher Monitor integriert, der noch nicht über Eingabefähigkeiten verfügte.

Zweite Version des hybriden Arbeitsplatzes,
der für die 50-Jahr-Feier des Fraunhofer IPA entwickelt wurde,
ohne berührungsempfindliche Eingabe, aber mit Anschluss an mobilen Roboter.

Der Schwerpunkt des Projektes war vielmehr ein mobiler Roboter, der für den automonen Transport von Labormaterialien (hier Multi-Well-Platten) gedacht war. Treffenderweise wurde das Projekt „Tischlein, Deck Dich!“ (nach dem deutschen Märchen) benannt.

Mobiler Roboter für den Transport von Labormaterialien auf der Laborbank.

Die Idee war, für die Größe und Dauer des Projektes, sehr ambitioniert und das Konzept in Retrospektive deutlich „over-engineered“. Trotzdem machte es nicht nur Spaß, das System zu entwickeln, sondern es resultierte in Demonstratoren, Konferenzbereiträgen und Abschlussarbeiten.

  • S. Knoch and S. Schöning, „Verknüpfung von manuellen Arbeitsplätzen und Laborautomation“, LaborPraxis, 2009.
  • S. Schöning, and S. Knoch, „Schöne neue (Labor-)Welt“, Fraunhofer IPA Interaktiv, 2009.
  • S. Knoch and S. Schöning, „The Hybrid Lab“, in LabAutomation 2010, 2010.

Die Idee des automatisierten Transports innerhalb und zwischen Labors hat mit dem Aufkommen autonomer Roboter wieder an Interesse gewonnen, wie man am Beispiel Kevin unserer Stuttgarter Kollegen erkennen kann (Stand Juli 2019).

Interaktions- und Grafikkonzept

Recht früh identifizierten wir die Schnittstelle zwischen Mensch und Laborbank (aka Maschine/Computer) als Schlüssel für effektives und ergonomisches Arbeiten.

Hauptsicht der Merlin-Bench-Software, bestehend aus elektronischem Laborbuch (Vordergrund) und Experimentenfächer (Hintergrund). Das Bild zeigt die tatsächliche Implementierung, die auf unterschiedlichen Konzeptphasen aufbaut.

Deshalb ließen wir im Rahmen von mehreren Bachelorarbeiten das Grundkonzept eines multitouchbasierten Laborjournals für die Laborbank entwerfen, untersuchen, bewerten und verfeinern.

  • V. Fischbein and J. Röhm, “Multitouch Lab Journal,” Hochschule der Medien, Stuttgart, 2011.
  • J. Röhm, V. Fischbein, and S. Schöning, “Multitouch Lab Journal,” GIT Labor-Fachzeitschrift, 2011.
  • V. Fischbein, J. Röhm, and S. Schöning, “Multitouch Lab Journal,” p. 134, 2011.
  • S. Gommer, “Mobile Lab Notebook – Konzeption und Realisierung eines elektronischen Laborbuchs für mobile, multitouchfähige Endgeräte im Bereich biochemischer Forschung,” 2011.
  • Y. Pfalzgraf, “User Interface Prototyping und Evaluation eines elektronischen Laborbuches auf der Basis eines Multitouch Systems für die biochemische Forschung,” Hochschule der Medien Stuttgart, 2011.
  • N. Schwichtenberg, “MErLiN Entwicklung eines elektronischen Laborbuches auf Basis eines Multitouchtisches,” Albstadt-Sigmaringen University, 2011.

Merlin Bench V2 (2014, Kinect-1)

Im Rahmen des EU-Projektes ManuCyte entwickelten wir den ursprünglichen Ansatz der Merlin Bench für sterile Umgebungen weiter und implementierten die erste Fassung der Softwarebasis der Merlin Bench. Als Technologie wurde softwareseitig .NET/C# sowie XAML eingesetzt; die Visualiserung der Graphen wurde durch die yWorks.NET-Bibliothek ermöglicht.

Hardwarebasis des hybriden Arbeitsplatzes (Evoluce 2) ohne sterile Arbeitsumgebung.
CAD-Modell der sterilen Umgebung des hybriden Arbeitsplatzes.
Hybrider Arbeitsplatz mit Handhabungsroboter (entwickelt durch Hochschule Regensburg).

Eine spannende Abschlussarbeit, die im Rahmen des Projektes entstanden ist, behandelte die Simulation von roboterunterstützten Handhabungsvorgängen an der Laborbank:

  • S. Hegenbart, “Assisting Workbench Manipulator Simulation of ManuCyte scenarios in OpenRAVE,” 2012.

Merlin Bench MS Wissenschaft (2014)

Für das Wissenschaftsjahr 2014 entwickelten wir eine besondere Variante der Merlin Bench: ein Exponat für die MS Wissenschaft. Dieses umgebaute Frachtschiff diente und dient in den Sommermonaten als fahrbare Ausstellung, die Schüler, Studenten, aber auch Familien und allen anderen Interessierten Wissenschaft näher bringen möchte. Jedes Jahr steht diese „Ausstellung auf dem Wasser“ unter einem anderem Motto; im Jahr 2014 war es das Motto „Digitale Gesellschaft“.

Demonstrator von Merlin auf der MS-Wissenschaft.

Die Herausforderung des Exponats bestand darin, einen einfachen Anwendungsfall zu finden und ihn robust umzusetzen – immerhin ist die MS Wissenschaft circa drei Monate im Sommer unterwegs. Exponate an Bord werden nur vom Personal des Schiffes bedient – Exponate müssen also gut und einfach funktionieren. Unser Anwendungsfall war natürlich aus dem Bereich Biotechnologie und hatte das Wachstum von Hefezellen zum Inhalt. Um dieses Thema herum entwickelten wir ein vereinfachtes, kurzes Experiment, in dem Benutzer selbst aktiv werden konnten und am Ende mit einer Urkunde belohnt wurden. Das Experiment lieferte zunächst Hintergrundinformationen zur Hefe und ihrer Bedeutung und ließ dann Benutzer den (fiktiven) Wachstumsgrad von Probenküvetten anhand der optischen Dichte und des Gewichts systematisch ermitteln – alles mit Unterstützung der Merlin Bench.

Dank guter Vorbereitung funktionierte unser Demonstrator über die gesamte Projektlaufzeit autark ohne Probleme. Der einzige Fehler, der nach einer Weile auftrat, war fehlendes Papier im Laserdrucker, der automatisch Teilnahmeurkunden ausdruckte – damit konnten wir gut leben!

Der Demonstrator konnte im Anschluss an die Ausstellung auf der MS Wissenschaft noch eine Weile in einer Sonderausstellung im Technoseum Mannheim ausprobiert werden.

Merlin Bench V3 (2014, Surface / SUR40)

Für die Weiterentwicklung der Merlin Bench verwendeten wir für die Version 3 bessere Hardware für Bildschirm und Multitoucheingabe.

Verbesserte Version des hybriden Arbeitsplatzes basierend auf dem Multitouch-Bildschirm Microsoft Surface (später Samsung SUR40) in steriler Umgebung.

Eine Besonderheit des hierfür eingesetzten Monitors „Microsoft Surface“ (später an Samsung verkauft und dann erhätlich unter dem Namen SUR40) war seine Funktionsweise: er fungierte wie ein grob auflösender Scanner, der über dem Display angebracht war. Diese Eigenschaft brachte uns auf die Idee, Barcodes oder sogar Inhalte von Laborplatten oder Petrischalen automatisiert im Prozess zu scannen. Prinzipiell funktionierte dieser Ansatz für eine qualitative Einschätzung (bspw. Bestimmung des Zellwachstums über die Zunahme der optischen Dichte > 50%), allerdings war die Auflösung des „Scanners“ für reale Anwendungen zu niedrig. Somit ließen sich nur unpraktische Riesenbarcodes (eher Marker) scannen.

Mixed-Reality-Konzept basiered auf dem Multitouchtisch, das physikalische Labware (hier Multi-Well-Platten) mit einer überlagerten Anzeige des Inhalts verbindet.

Außerdem hatte die „Scanner“-Eigenschaft des Bildschirms auch einen signifikanten Nachteil: die robuste Funktionsweise des Monitors war vom Umgebungsstreulicht sehr stark abhängig, insbesondere im infraroten Bereich. Dieser Bereich wird durch „Neon-Röhren“ (Gasentladungslampen), die sich allüberall in Büros und Laboren finden, stark beinflusst, so dass die Robustheit mitunter stark eingeschränkt war.

Merlin Bench V3.

Merlin Bench V4 (2015)

Den letzten von der Projektgruppe entwickelten Demonstrator konnte man fast schon einen Prototyp nennen: Entwickelt als Passepartout für eine Standard-Sterilbank, ausgerüstet mit einem kostengünstigen Multitouchmonitor, die zunehmend am Markt verfügbar wurden, war er einfach einzusetzen und zu verwenden.

Merlin Bench als Einsatz für eine Standard-Laborbank.

… wie weiter?

Nach fast einer Dekade aktiver Entwicklung im Rahmen von kleineren und größeren Forschungs- und Entwicklungsprojekten entschieden wir uns im Jahr 2016, den Schwerpunkt weg von der Hardware und hin zur Entwicklung der zugrundeliegenden Prozessmanagementsoftware zu verschieben und damit die hardwarenahen Entwicklungen zu beenden. Die Ideen und Konzepte, die dem Ansatz Merlin Bench zugrunde liegen, leben aber in anderen Projekten weiter, insbesondere im Projekt „Merlin Process Designer„.